Besser informierte Debatten über Kriminalität nötig
Pressekonferenz der Kriminologischen Gesellschaft – vier Forderungen an die Politik: Bessere statistische Grundlagen, Zeugnisverweigerungsrecht für Kriminologen, maßvoller Einsatz des Strafrechts, Stärkung der Forschung
Anfragen von Medien und Öffentlichkeit bei Kriminologinnen und Kriminologen zur Einordnung von Verbrechen und Kriminalfällen nehmen seit Jahren zu. Gleichzeitig haben sich die Bedingungen verschlechtert, unter denen Kriminologinnen und Kriminologen diese Aufgabe wahrnehmen. Die Kriminologische Gesellschaft (KrimG) hat in einer virtuellen Pressekonferenz am Donnerstag vier Forderungen an die Politik gerichtet, deren Umsetzung die Qualität der öffentlichen Debatten über Kriminalität in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbessern sollen.
1. Neuauflage des Jahrbuchs zur Polizeilichen Kriminalstatistik und bessere statistische Grundlagen nötig
Wichtige Informationen werden durch die Behörden in Deutschland, aber auch in der Schweiz, nicht in einem ausreichenden Maße bereitgestellt.
Trotz mehrfacher Proteste der KrimG beim Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) stehen die ehemals vier Bände des Jahrbuchs der Polizeilichen Kriminalstatistik seit dem Berichtsjahr 2020 nicht mehr zur Verfügung. Dass damit ohne Not auf eine Darstellung, aber auch auf die früher erfolgte Einordnung der Entwicklung der Kriminalität durch das Bundeskriminalamt verzichtet wird, irritiert in einer Zeit, in der Fehlinformationen über Kriminalität häufiger werden. Das Jahrbuch sollte daher wieder in seiner früheren Form erscheinen.
Darüber hinaus fordert die KrimG den Bundestag auf, das seit langem geplante Strafrechtspflegestatistikgesetz endlich zu diskutieren und zu verabschieden.
Ergänzend sollte die Kriminalitätsentwicklung in Periodischen Sicherheitsberichten eingeordnet werden. Unverzichtbar erscheint dafür die Einbeziehung unabhängig-universitärer Forschung und eine tatsächlich periodische Erscheinungsweise, für deren Taktung die Jahresberichte der sogenannten Wirtschaftsweisen Vorbild sein könnten.
All diese Maßnahmen wären ein wichtiger Baustein für die (auch im letzten Koalitionsvertrag) vielbeschworene, aber bisher nur selten praktizierte „vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik“.
2. Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für kriminologisch arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Im Jahr 2020 wurden durch bayerische Behörden Erkenntnisse aus Interviews mit Gefangenen beschlagnahmt, die ein Kriminologe in einem Forschungsprojekt zur islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug erlangt hatte. Den befragten Gefangenen waren vorher Anonymität und die Nicht-weitergabe ihrer Daten zugesichert worden.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde des betroffenen Wissenschaftlers (BVerfG, B. v. 25.9.2023 - 1 BvR 2219/20) der Sache nach entschieden hat, dass durch kriminologische Forschung gewonnene vertrauliche Erkenntnisse in besonderem Maße schützenswert sind, besteht bisher für kriminologisch arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kein Zeugnisverweigerungsrecht in der Strafprozessordnung.
Wir fordern daher das Bundesministerium der Justiz auf, sich für die Einführung eines derartigen Zeugnisverweigerungsrechts einzusetzen.
3. Plädoyer für den Erhalt eines maßvoll eingesetzten Strafrechts
Insbesondere nach schweren Gewalttaten wird in der Öffentlichkeit nach härteren Strafen gerufen. Beispiele sind Überlegungen zur Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze unter die bisherigen 14 Jahre, aber auch Forderungen nach höheren Strafen, insbesondere im Sexualstrafrecht.
Aus kriminologischer Sicht ist dem folgendes entgegenzuhalten: Es gibt keine belastbaren empirischen Erkenntnisse, dass vermehrte und härtere Strafen automatisch zu einem Rückgang der Kriminalität in einem betreffenden Bereich führen. Zudem hat zum Beispiel die trotz aller Warnungen aus der Kriminologie vorgenommene (kürzlich wieder zurückgenommene) Ausgestaltung sogenannter Kinderpornographie (§ 184b StGB) als Verbrechen gezeigt, dass ein derart undifferenziertes Vorgehen sogar eine wirksame Strafverfolgung erschweren kann.
Statt eine einseitig auf das Strafrecht setzende Kriminalpolitik zu verfolgen, sind Maßnahmen der Prävention zu stärken. Dass insbesondere eine wirksame „Sozialpolitik zugleich auch die beste und wirksamste Kriminalpolitik“ (Franz von Liszt) sein kann, wurde bereits vor mehr als 100 Jahren betont. Diese Erkenntnis gilt auch noch im Jahr 2024.
4. Stärkung kriminologischer Forschung
Die KrimG stellt fest, dass die Expertise von Kriminologinnen und Kriminologen in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit und insbesondere in den Medien immer stärker nachgefragt wird. Auch ist zu beobachten, dass die reale, nicht selten aber auch nur die gefühlte Entwicklung der Kriminalität einen nicht unerheblichen Einfluss auf weitreichende politische Entscheidungen, aber auch auf die Stimmung der Bürgerinnen und Bürger im Land hat.
Die KrimG registriert demgegenüber mit Sorge, dass dieser gestiegenen Bedeutung kriminologischen Wissens ein Rückgang der Institutionalisierung der Kriminologie an den Universitäten, aber auch an außeruniversitären Forschungseinrichtungen, gegenübersteht. Lehrstühle mit Schwerpunkten Kriminologie werden tendenziell eher gestrichen. Das Nationale Zentrum für Kriminalprävention (NZK) in Bonn wurde Ende des Jahres 2021 nach sechs Jahren mit Auslaufen der Projektförderung aufgelöst. Der an der Universität Hamburg angesiedelte Master-Studiengang „Internationale Kriminologie“ wurde abgeschafft.
Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Angesichts alter und neuer Herausforderungen bei der Erforschung von Kriminalität und geeigneter Reaktionen hierauf darf die unabhängige kriminologische Forschung an Universitäten und anderen Hochschulen nicht weiter zurückgebaut werden. Sie ist personell und finanziell auszuweiten. Neue Standorte für kriminologisch ausgerichtete Professuren sollten hinzukommen.
Die Pressekonferenz fand virtuell statt. Es nahmen teil:
- Prof. Dr. Jörg Kinzig, Präsident der Kriminologischen Gesellschaft und Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen
- Prof. Dr. Thomas Bliesener, Vizepräsident der Kriminologischen Gesellschaft und Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Hannover
- Dr. Thaya Vester, Leiterin des Organisationskomitees der Fachtagung KrimG2024 und Mitarbeiterin am Kriminologischen Institut der Universität Tübingen
Die Kriminologische Gesellschaft
Die KrimG ist die bei weitem größte deutschsprachige wissenschaftliche Vereinigung für Kriminologie. Die Pressekonferenz war der Auftakt zur 18. Wissenschaftlichen Fachtagung „KrimG2024“, die vom 26. bis 28. September an der Universität Tübingen stattfindet. Der Titel der Veranstaltung, zu der über 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angereist sind, lautet: „Am Puls der Zeit?! Trends, Transfer und Tradition in der Kriminologie“. Das Programm kann auf der Tagungsseite www.krimg2024.de eingesehen werden. Der Rhythmus der Fachtagung der KrimG ist doppeljährig. Sie wird von der amtierenden Präsidentin / dem amtierenden Präsidenten ausgerichtet - für das Jahr 2024 übernimmt entsprechend Professor Kinzig diese Aufgabe. Er ist auch Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen.
Institut für Kriminologie der Universität Tübingen (IfK)
Das IfK wurde im Jahr 1962 als erstes kriminologisches Institut in Deutschland gegründet. Dort ist auch eine Juniorprofessur für Kriminologie und Strafrecht (Jun.-Prof. Dr. Jennifer Grafe) angesiedelt. Darüber hinaus existiert an der Universität Tübingen seit 2013 eine Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement (Prof. Dr. Rita Haverkamp). In Tübingen wird zudem seit Jahren zusammen mit der Universitätsbibliothek (UB) der sogenannte Fachinformationsdienst Kriminologie betrieben. Insbesondere über die Datenbank KrimDok kann eine Fülle kriminologisch relevanter Informationsquellen recherchiert werden.
Kontakt:
Prof. Dr. Jörg Kinzig
Präsident der Kriminologischen Gesellschaft
Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen
joerg.kinzig@uni-tuebingen.de